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Lieber Jürgen Banscherus, was fasziniert Sie bloß so an Verbrechen?

Als Virtuose anspruchsvoller Kinder- und Jugendkrimis bedient Jürgen Banscherus (Ein Fall für Kwiatkowski; Novemberschnee) die ganze Variationsbreite von der Detektivgeschichte über den Thriller zum Räuber- und Verbrechensroman, alle Lesealter vom Erstleser zum Jugendlichen, und er bedient Tonlagen von humorig bis hart. BJL-Autorin Esther Kochte korrespondierte mit dem Autor per E-Mail über die Lust am Verbrechen, das Schmunzeln, das Schweigen und andere Abgründe.

Ein E-Mail-Wechsel für das Bulletin Jugend & Literatur | 11-2004

Liebe Esther Kochte, die ersten 20 Seiten eines neuen Manuskripts sind geschrieben. Bevor es weitergeht, mache ich wie immer ein paar Tage Pause. In dieser Zeit wird etwas in meinem Schädel passieren, ich weiß nicht genau was. Jedenfalls werde ich am Montag Mühe haben, mir auf der Tastatur zu folgen. Das ist jedes Mal so und immer noch ein Wunder.

Lieber Jürgen Banscherus, "es" schreibt Sie also?

Bitte sehen Sie das nicht als Wiederauflage von Geniekult o. ä. an. Es findet – gleichgültig, was ich sonst tue – auf einer Schicht gleich unterhalb des Tagesbewusstseins eine Art komplexer Erinnerungsprozess in die Zukunft hinein statt. Die Geschichte schreibt sich weiter, taucht an der Oberfläche auf, verschwindet wieder und so fort. Puh, schwierig. Aber einfacher kann ich es nicht ...

Gehen Sie von Ihrem persönlichen Welterleben aus oder versuchen Sie, Kindern und Jugendlichen nach dem Mund zu schreiben?

Meine Themen durchlaufen, wie bei den meisten Autoren, einen dreistufigen Prozess, den man mit "Impuls", "Verpuppung", "Häutung" beschreiben könnte. Impulse kommen überall her. Was später daraus entsteht, hat oft mit der ursprünglichen Geschichte, Beobachtung, Emotion kaum noch etwas zu tun. Natürlich steckt mein Welterleben im fertigen Buch, ich frage mich nie, wie meine Tochter oder mein Sohn sich in einer ähnlichen Situation verhalten, was sie fühlen oder denken würden. Ich versuche beim Schreiben sieben oder acht, 14 oder 15 Jahre alt zu werden. Das reicht. Ich definiere mich in der Zeit am Computer, unbescheiden wie ich bin, zum exemplarischen Jugendlichen um – und bin jedes Mal erstaunt, wenn mir ein 16-Jähriger erzählt, wie nah er sich beim Lesen meiner Hauptperson gefühlt hat. Solange dieser Prozess funktioniert, werde ich weiterschreiben.

Geben die eigenen Kinder Ihnen beim Schreiben Feedback?

Meine Kinder lesen meine Bücher und kritisieren sie auch. Und wenn ich ihre Kritik einsehe, versuche ich es beim nächsten Buch besser zu machen.

Ein Großteil Ihrer Bücher sind Krimis. Ohne Krimi geht der Banscherus nicht ins Bett?

Es kommt vor, dass ich mit einem Krimi ins Bett gehe. Allerdings eher selten und nur dann, wenn mich ein Titel anspringt. Ansonsten lese ich mich vor allem durch die Werke solcher Autoren, die in der literarischen Öffentlichkeit eine nachgeordnete Rolle spielen. Darunter gibt es Perlen – unglaublich! (Lesen Sie mal Ingomar von Kieseritzky...)

Bis ich zwölf war habe ich außer "Kalle Blomquist" nie einen Krimi gelesen. Dann kam meine Initiation zum Bücherjunkie. Ich las Dostojewkis "Schuld und Sühne" und war von dem Moment an für jede Kinder- oder Jugendliteratur verloren - bis ich 22 Jahre später "Keine Hosenträger für Oya" schrieb.

Ein großer Sprung, von Lindgren zu Dostojewski. Hätte es damals Jugendbücher wie Ihre gegeben, hätten Sie sie als Jugendlicher gelesen? Vielen Jugendlichen fehlt nach Erkenntnissen der Lesebiografieforschung ein Übergang von der Kinderlektüre zur anspruchsvollen Belletristik – viele unterbrechen ihre Lesepraxis in der Pubertät. Dabei fehlt vielleicht nur das Wissen um eine adäquate Jugendlektüre (was immer das sei)?

Als ich zwölf war, schrieben wir das Jahr 1961. So etwas wie die vielschichtige Jugendliteratur von heute hatten wir nicht im entferntesten – stattdessen Karl May oder Helmut Höffgens "Mit dem Fahrrad durch den Urwald". Natürlich hätte ich das, was Sie als eine Art "Übergangsliteratur" bezeichnen, gelesen. Unsinn, ich hätte es gefressen!

Die Hosenträgerbande ist keine typische Kinderbuchbande in der Tradition Enid Blytons, die supersmart die waghalsigsten Abenteuer besteht. Sie thematisieren auch Misserfolge und vor allem Vorurteile gegen türkische Gastarbeiter.

Meine ersten Veröffentlichungen hatte ich als Lyriker, d.h., ich versuchte, Emotionen, Erfahrungen, Geschehnisse extrem zu verdichten. Dann erlebte ich in Dortmund die ersten rassistischen Aktionen gegen Türken. Die schrieen geradezu nach Prosa. Mein erster Impuls ließ mich darüber nachdenken, einen Roman für Erwachsene zu schreiben. Als ich aber in meinem Stadtteil beobachtete, welche Schwierigkeiten türkische Kinder hatten, Kontakt mit deutschen Kindern aufzunehmen, begann ich mich daran zu erinnern, wie oft ich mich in meiner Kindheit fremd gefühlt hatte. Geografisch. Sozial. Emotional.

Haben Sie als Kind selbst einer Bande angehört?

Nein, nie. Für die "Hosenträger" gibt es kein Vorbild in meiner eigenen Kindheit. Nein, ich bin heute ziemlich sicher, dass ich mich in die Sinans, Klatsches, Eules, Willis oder Andys aufgespalten habe, dass sie verschiedene Aspekte dieses meines "Sich-Fremd-Fühlens" repräsentieren.

Was fasziniert Sie am Verbrechen?

Es ist der Regelverstoß (s. "Schuld und Sühne": Student erschlägt Wucherin). Es ist die Frage, wie Täter und Gesellschaft mit diesem Verstoß umgehen. Und es ist die Auseinandersetzung mit mir selbst, mit meiner – ja, das gibt´s! – Sympathie für den Täter, mit meiner Verachtung für seine Verfolger, also mit meinem eigenen Bedürfnis, aus normierten Rollenzuschreibungen auszubrechen.

Was Sie in Ihren Jugendkrimis "Novemberschnee" (Eule des Monats, s. BJL 5/2002) oder "Die Stille zwischen den Sternen" nach Art des Verbrechensromans realisieren: Die Tat wird aufgrund der Persönlichkeit des Täters nachvollziehbar. Sie forcieren die Identifikation des Lesers mit dem Täter. Für Kinder inszenieren Sie die Subversion dagegen als satirische Räubergeschichte – das Romanduo "Der Smaragd der Königin" (2003) und "Das Gold des Skorpions" (2004) ist aus Ihrem Oeuvre übrigens mein absoluter Favorit: Faustdicke hinter den Schlitzohren haben es die 11-jährige Hobbyboxerin Pia und ihr legendärer Tresorknacker-Opa Puschkin; mit ihrem Gangsterethos treiben sie reichlich Schabernack und bringen den Rest der Familie, ehrbare Bankangestellte, gegen sich auf.

Ja, der Witz bei Pia und Puschkin entsteht aus der permanenten Regelverletzung der beiden Protagonisten – die nicht einmal bestraft wird! Wenn Kinder darüber mit ihren Eltern reden und die ihnen z.B. von Helmut Kohl, den Spendengeldern und die Straffreiheit für den Herrn erzählen, soll mir das nur recht sein.

Aber wie steht es mit der Detektiverzählung? Rezeptionspsychologisch lebt sie vom Triumph des Detektivs über den Täter. So kann von Verachtung für den Verfolger in Ihrer Erstleserserie "Ein Fall für Kwiatkowski" (13 Bde. seit 1995) keine Rede sein. Der Kinderdetektiv ist im Gegensatz zum Gros seiner Genrekollegen zwar kein überlegener Held, aber er steht mit seiner moralischen Reinheit doch in positiv gemeintem Kontrast zu den Tätern. Müssen jüngere Kinder erst mal auf den rechten Weg gebracht werden, bevor sie ihn bewusst verlassen dürfen?

Hm. Vielleicht ist es bei mir weniger ein moralischer Impetus als die praktische Erfahrung mit meinen Kindern. Unzählige Male habe ich versucht, bei ihnen (im Alter von sechs bis zehn Jahren) das klassische Gut-Böse-Schema zu durchbrechen. Es ist mir nicht gelungen. Das Gute musste siegen, basta. Da war ich schon froh, wenn ich im "Kwiatkowski" wenigstens bei Detektiv und Bösewicht ein paar Grautöne anbringen konnte.

Mit meinen "Kwiatkowski"Krimis will ich unterhalten, ganz klar. Trotzdem läuft bei ihnen unterhalb der Handlungsebene eine genrekritische Schiene mit. Es gibt z.B. – zumindest in den Städten – so gut wie keine Kinderbanden mehr. Trotzdem treten in den meisten Kinderkrimis Banden oder fest formierte Gruppen auf, die große Fälle bis hin zu Mord und Totschlag lösen. Kwiatkowski dagegen ist ein Großstadtindianer, ein einsamer Wolf, der zwischen Größenwahn und Depression schwankt, dem man eigentlich Freunde wünschte. Dazu löst er Fälle, die seine Leser auch selbst lösen könnten. Er ist also den Erwachsenen nicht – wie in vielen anderen Kinderkrimis – überlegen, er durchschaut ihre Schwächen, weil er seine kennt. Als letztes: Die "Kwiatkowski"-Krimis sind gewaltfrei. Wenn Sie so wollen, haben ich den Anspruch zu zeigen, dass ein Krimi auch dann spannend sein kann, wenn kein Blut fließt.

In Kinderkrimis fließt allerdings selten Blut, Mord spielt erst im Jugendbuch eine Rolle. Und jenseits der reichen Staaten existieren schon noch Kinderbanden, nur sind sie nicht als Detektive unterwegs. Im Gegenteil, sie klauen organisiert ihren Lebensunterhalt zusammen, sind also selbst kriminell (z.B. im Klassiker "Die rote Zora" oder Cornelia Funkes "Herr der Diebe"). Die Verbrecher jagende Kinderbande ist hingegen seit jeher Fiktion, eine typisch kinderliterarische Figuration der Detektivgeschichte. Die häufige Überzeichnung der geballten kindlichen Kompetenz finde ich darin berechtigt, indem sie die Lesebedürfnisse einer bestimmten Altersgruppe bedient.

Angesichts Ihrer Ausführungen zu meinen Unwissenheiten, was Banden in Kinderbüchern und -krimis angeht, neige ich in Ehrfurcht das Haupt und folge in toto Ihrer Argumentation.

Ihre Genrekritik im "Kwiatkowski" läuft über parodistische Anklänge an den amerikanischen hard-boiled-Krimi. Autorennamen wie John Carpenter und Dashiell Hammet enden bei Ihnen als Kaugummimarke. Der "Carpenter´s"-Kaugummi ersetzt für Ihren Kinderdetektiv hirnanregend die Zigarette (bzw.Sherlock Holmes´ Opiumpfeife), ein Glas Milch den alkoholischen Drink. Eitel betont Kwiatkowski sein Genie, um dann wieder selbstmitleidig über die Härte und Vergeblichkeit seines Berufs zu klagen wie ein routinierter Hardboiler. Diese Anspielungen machen den Witz des Texts aus. Ihren "abgebrühten" Sprachduktus finde ich übrigens besonders für diese Altersgruppe hervorragend! Sie retten meinen Glauben an das freche Buch für Leseanfänger. Zu viele Erstlesebücher sind dagegen kindertümelnd, wie einst Erich Kästner sagte, "in der Kniebeuge" geschrieben.

Ich danke Ihnen, dass Sie die Rechte ans Kinn des Autors gleich durch ein sanftes Lob abfedern…

Funktionieren Persiflage und Parodie denn auch, wenn der kindliche Leser die Vorlagen noch nicht kennt? Zumal die Mär geht, Kinder verstünden noch keine Ironie.

Ich glaube an so etwas wie ein altersangemessenes Verstehen von Ironie. Und das funktioniert mit Milch und Kaugummis ganz prima, auch wenn die Kinder dabei nicht an den Lucky Strike rauchenden und Jack Daniels trinkenden Detektiv Marlowe denken. Das klappt genauso bei Kwiatkowskis partiellem Größenwahn, auch wenn den kindlichen Lesern dazu nicht sofort Sam Spade in "Chinatown" einfällt. Bei meinen Lesungen erlebe ich immer wieder, dass es so etwas wie Archetypen des Detektivs zu geben scheint. Die haben Kinder offenbar schon sehr früh internalisiert, wobei sicherlich Film und Fernsehen eine wichtige Rolle spielen.

Stimmt, bereits in der Sesamstraße schnüffelt ein gewisser Sherlock Humbug mit seinem Hund Dr. Watson herum. Auf CD-ROM können die Kinder ihm sogar bei der Falllösung helfen. Karomantel, Schirmmütze und Lupe prägen sich also bereits Kleinkindern als Markenzeichen des Detektivs ein. Dass der Name auf den Ahnen in der Bakerstreet anspielt, müssen sie dabei ja nicht unbedingt wissen.

Sie haben natürlich Recht, in der Regel kennen auch meine achtjährigen "Kwiatkowski"-Leser die Abenteuer von Sherlock Holmes nicht. Doch die meisten haben den Namen bereits gehört. Mit ihm verbinden sie Klugheit, Wagemut und eine untrügliche "Nase". Kurz: Parodie und Ironie sind für mich keine "Schmankerl" für Erwachsene. Sie sollen vielmehr dem Leser jeden Alters eine Leichtigkeit vermitteln, die es erlaubt, sich vom Geschehen schmunzelnd zu distanzieren.

Ihre älteren Leser haben indes nichts mehr zu lachen: An Härte stehen Ihre Jugendkrimis einem Krimi für Erwachsene um nichts nach. Halten Sie das Krimigenre für besonders geeignet, soziales Übel anzuzeigen? Immerhin umschiffen Sie durch Spannung und Suspense elegant das berüchtigte Problembuch mit dem exemplarischen Psychofall.

Das Problembuch, oje. In der Tat ist es heute zunehmend schwierig, ein Buch wie "Davids Versprechen" zunächst an den Buchhandel und dann an den Leser zu bringen. Der Jugendkrimi ist da eine Möglichkeit, in einer spannenden Handlung so etwas wie Gesellschaftskritik zu transportieren, die mir angesichts der Dominanz von Fantasy-Literatur immer wichtiger wird. Der Krimi also als Mittel zum Zweck? Ja, auch. Aber mindestens so sehr interessieren mich die Bauformen des Genres. Ich kann spielen – mit dem Leser, gegen den Leser, kann ihn vom Boot werfen und wieder hereinziehen und gleichzeitig einigermaßen sicher sein, dass er aufgrund seiner Vertrautheit mit dem Genre bis zum Ende mitspielt. Vielleicht ist es das: Nie fühle ich mich näher beim Leser als in den Zeiten, in denen ich an einem Krimi schreibe. Ob das ein erstrebenswerter Zustand ist, weiß ich nicht.

Wie kann ein Buch wie "Davids Versprechen" über einen misshandelten Jungen das richtige Kind erreichen? Die betreffenden Eltern werden es ihrem Spross wohl kaum auf den Gabentisch legen…

Den "David" musste ich schreiben. Es ist mein autobiografischstes Buch, sofern es diesen Superlativ überhaupt gibt. Die Geschichte wollte unbedingt raus, und ich bin froh, dass sie es ist. Fragen nach Zielgruppe, Verbreitung etc. waren mir dabei piepegal. Dass das Buch bisher so gut läuft (drei Harcover-, acht TB-Auflagen), überrascht mich, ehrlich gesagt.

Zurück zu Ihren Jugendkrimis. "Novemberschnee" (2002). Sie kennen keine Gnade für die weibliche Heldin des Thrillers. Nicht nur eine alte Frau, auch Ihre beiden Freunde sterben an den Folgen ihres delinquenten "Spiels" zu dritt. Sie wird als deren Mörderin verdächtigt und dann stirbt auch noch ihr Vater an dem Schock darüber, was ihre Tochter angerichtet hat.

"Die Stille unter den Sternen" (2001). Der Held rebelliert gegen die Verlogenheit der Erwachsenen mit hartnäckigem Schweigen und dem Bau harmloser Bomben. Dadurch erpressbar, lässt er sich in ein Verbrechen ziehen und wird dabei durch einen unfallbedingten Hirnschaden wirklich stumm. Böse Ironie des Schicksals. Gibt es keine Chance für aufrichtige Menschen, die das falsche Gesellschaftsspiel durchschauen?

"Das Lächeln der Spinne" (2004). Der Held kommt bei seiner Detektivarbeit glimpflich davon, jedoch wird das schließlich aufgeklärte Verbrechen von offizieller Seite verdeckt. Die wirklichen Opfer, illegal eingewanderte Ukrainer, bleiben ohne Rechtssprechung, werden abgeschoben und sind damit doppelt bestraft. Durch den Verzicht auf ein Happyend üben Sie Kritik am korrupten Polizei- und Staatsapparat. Gibt es von der Subversion abgesehen für Sie, um es provokant zu formulieren, ein lustvolles Moment im Ausphantasieren fataler Schicksale? Verarbeiten Sie dabei eigenes ungutes Welterleben?

Oh Mann - wissen Sie nicht, dass nur Mist dabei herauskommt, wenn Autoren ihr eigenes Werk interpretieren sollen und dazu auch noch psychoanalytisch? Zitternd und zagend (sofort denke ich an den Rettungsschuss) antworte ich also: Natürlich können Sie aus dem o.g. Teil meiner Biografie ein sadomasochistisches Motiv herauslesen, so etwa nach dem Motto: Er hat´s als Kind knüppeldick gekriegt, nun gibt er´s als Autor an seine Hauptpersonen weiter. Vielleicht spielt das wirklich eine Rolle, ich weiß es nicht. Aber wenn ich mit meinen ernsten Büchern etwas will, dann ist es das: den jugendlichen Lesern zeigen, dass ich ihnen was zutraue. Dass ich ihnen zutraue, damit fertig zu werden, dass es nur zu oft kein Happyend gibt. Dass ich ihnen zutraue zu begreifen, dass es keine Instanz gibt, die sagt: Nun hast du genug gelitten, ab jetzt soll es dir wieder gut gehen. Dass ich ihnen, wenn Sie so wollen, vom Ende der Unschuld erzähle. Viele möchten das nicht, das verstehe ich. Gleichzeitig bekomme ich Briefe, in denen mir z.B. eine 13-jährige aus Osnabrück sagt: "Sie haben mir mit "Davids Versprechen" die Augen geöffnet, wie das Leben ist, wie das Leben sein kann."

Ihre Lieblingsfigur?

Schwierig, ich mag eigentlich jeden meiner Protagonisten. Vielleicht ist es der Simon Laub in "Das Lächeln…". Der hat – mit Ausnahme der hünenhaften Körpergröße verdammt viel von mir.

Also sind Sie in Sachen Gerechtigkeit couragiert, waghalsig und hartnäckig, außerdem einfühlsam, eigenbrötlerisch und schweigsam… Apropos: In "Die Stille…" will der 14-jährige Held durch den Knall einer Bombe, vor allem aber, indem er selbst schweigt, Stille provozieren, die Lügerei der Erwachsenen zum Schweigen bringen.

"Es ist verrückt. Da schweige ich ein paar Tage und schon soll ich zum Psychoklemptner. Dabei würde es allen gut tun, mal für eine Weile den Mund zu halten, nicht nur meinen Eltern", so räsoniert Jonas die Reaktion seiner Umwelt. Die Dynamik seines Schweigens wissen Sie so differenziert zu schildern, als kennten sie sich bestens damit aus…

Als Kind habe ich viel geschwiegen. Nur so konnte ich mich aus meiner geschwätzigen Familie innerlich verabschieden. Von daher weiß ich sehr gut, welche Ängste und zugleich Aggressionen das Schweigen bei den Angeschwiegenen auslöst.

Schließen wir die Bücherrunde mit der launigen Erstleserserie "Paul und Paule" (vier Bde. seit 2000) über eine verschworene Männerwirtschaft. Sie verzichtet als einer der wenigen Ihrer Texte ganz auf kriminelle Energie. Ist der kumpelhafte Papa darin Ihr Abbild (abzüglich des Bauchs, versteht sich) oder nur Wunschbild?

So einen wie den Vater Paul hätte ich selbst gern gehabt. Er ist in nahezu allen Charakterzügen das genaue Gegenteil meines Vaters. Ob ich als alleinerziehender Papa meinen Sohn so geduldig und verständnisvoll erzöge wie Paul, weiß ich nicht. Ich habe da meine Zweifel - und mein Sohn Christopher hätte sie bestimmt auch.

Was machen Ihre Kinder?

Meine Tochter macht im nächsten Jahr Abitur und will dann ins Ausland. Mein Sohn ist ein großer Sportler – und Leser. Als andere Jungen seines Jahrgangs damit aufhörten, begann er damit. Dass mich das freut, können Sie sich sicher vorstellen. Kinder werden im übrigen nie so, wie die Eltern sich das wünschen. Und das ist auch gut so...

Nennen Ihre Kinder ihre Eltern beim Vornamen wie viele Ihrer Buchhelden?

Nein, auf ausdrücklichen Wunsch meiner Kinder sind meine Frau und ich "Mama" und "Papa". Ist das der konservative "Rollback"?

Waren Sie ein wilder 68er Revoluzzer?

Ich habe 1968 Abi gemacht und bin dann voll in die Studentenrevolte hineingesprungen. Die hat mich geprägt – bis heute. Will heißen, ein anarchisches, antiautoritäres Moment ist geblieben, ich glaube, auch in meinen Büchern.

Singen Sie nun im Jammerchor über die unpolitische MTV-Generation? Ihre Buchfiguren hören die Stones oder gar die Simple Minds. Die engagierten Schottenrocker der 80er kennt heute doch kein Kind mehr…

Bei meinen beiden Kindern habe ich erlebt, wie sie sich eine Zeitlang für die Gruppen interessierten, die ihre Eltern als Jugendliche bzw. junge Erwachsene hörten. Das habe ich in meine Bücher übernommen. Die Simple Minds habe ich auch aus einem weiteren Grund hineingeschrieben. Da werde ich an einer Stelle pädagogisch, wo man es vielleicht gar nicht vermutet. Dem Novitätenzwang gerade auch in der Popmusik stelle ich eine Erinnerung entgegen. Das gestatte ich mir auch in meinem Leben außerhalb des Schreibens, zugegeben mit wechselndem Erfolg.

Ihre Buchhelden lassen eine gewisse Schwäche für Sommersprossen und rote Haare vermuten…

Die hatte ich immer schon. Meine Frau hat – natürlich – rote Haare und die zahlreichsten Sommersprossen der Welt.

Sie sind Vorsitzender der Jury des bundesweiten Vorlesewettbewerbs. Diese Leseförderaktion, eine der ältesten, ist in der Szene sehr umstritten. Vorbehalte richten sich dagegen, dass nur Kinder antreten, die ohnehin gut lesen können und Leseschwache abermals außen vor bleiben.

Oh je, der Vorlesewettbewerb. Börsenverein und Buchhandel finden ihn wichtig, weil er natürlich angesichts von jährlich etwa 700 000 Teilnehmern eine ziemlich effektive Werbeveranstaltung ist. Das ist auch absolut so in Ordnung, ich habe im Zusammenhang mit kommerziellen Aspekten der Leseförderung keinerlei Berührungsängste. Darüber hinaus aber erlebe ich als Vorsitzender der Jury beim Bundesentscheid die Kinder persönlich: ihre Begeisterung, ihre Abenteuerlust, ihre Direktheit, ihre Kommunikationsfreude, wenn sie Bücher weiterempfehlen. Genau das ist es, was mich Jahr für Jahr mit großer Vorfreude nach Frankfurt fahren lässt. Bis jetzt bin ich noch nie enttäuscht worden.

Welchen Leitsatz möchten Sie ihren Kindern und Lesern auf den Weg geben?

Ich habe tatsächlich ein Motto, das ich hier nicht zum ersten Mal zitiere: Hütet euch vor Menschen, die auf schwierige Fragen einfache Antworten geben.

Liebe Esther Kochte, das war´s wohl. Ich glaube, noch nie hat mich ein Interview so gefordert und mir zugleich so viel Spaß gemacht. Herzliche Grüße von Ihrem Jürgen Banscherus.

Lieber Jürgen Banscherus, ich danke Ihnen im Namen der BJL-Leser für diesen engagierten Schriftwechsel. Und bleiben Sie so spannend! Ihre Esther Kochte

 

Vita

Jürgen Banscherus, geboren 1949 in Remscheid-Lennep, "exzessiver Leser" und Vorsitzender der Jury des bundesweiten Vorlesewettbewerbs, lebt mit seiner Familie in Witten (Ruhrgebiet). Umgeben von Musik, denn seine Mutter war "eine hervorragende Sängerin", träumte er als Jugendlicher von einer Karriere als Pianist. Daraus wurde zwar nichts, aber den Tasten ist er treu geblieben: Seit 1989 jagt er seine Finger als hauptamtlicher Schriftsteller am PC darüber, unterbrochen durch Feldarbeit, intensive Lektüren, Recherchen in Bibliotheken und im Internet. Aus seinem Arbeitszimmer blickt er "auf Feld und Pappeln".

Nach dem Studium verschiedener Geistes- und Sozialwissenschaften schrieb er als Journalist bei einer Tageszeitung, eine Weile sogar als Polizeireporter. Sein Insiderwissen kommt heute seinen Jugendkrimis zugute. Nach weiteren Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sachbuchlektor, Dozent in der Erwachsenenbildung sowie nach Publikationen als Lyriker seit 1983 gewann er gleich mit seinem ersten Kinderbuch "Keine Hosenträger für Oya" (1985) den Preis der Leseratten des ZDF und Die Blaue Brillenschlange. Es folgten zahlreiche weitere Preise wie das Harzburger Eselsohr für "Davids Versprechen" (1993) oder der Jugendkrimipreis Emil für "Die Stille zwischen den Sternen" (2001). Unter den 10 Bremer Besten war 2002 sein Thriller "Novemberschnee". 1997 erhielt er den Literaturpreis Ruhrgebiet für sein Gesamtwerk.

Homepage: jbanscherus.de.vu

 

Auswahlbibliografie

Davids Versprechen. Mit einem Nachwort von Dr. med. W. Andler. 9. Aufl. Würzburg: Arena TB 2004. ISBN 3-401-01891-4. 132 Seiten. 5,50 €. Ab 12

Das Gold des Skorpions. Würzburg: Arena 2004. ISBN 3-401-057138. 134 Seiten. 8,50 €. Ab 10.

Das Lächeln der Spinne. Würzburg: Arena 2004. ISBN 3-401-05579-8. 240 Seiten. 12,90 €. Ab 13.

Der Smaragd der Königin. Würzburg: Arena 2003. ISBN 3401-05528-3. 8,50 €. 133 Seiten. Ab 10.

Die Stille zwischen den Sternen. Eine Kriminalgeschichte. Würzburg: Arena TB 2003. ISBN 3-401-02842-1. 174 Seiten. 6,50 €. Ab 13.

Ein Fall für Kwiatkowski. Das Geheimnis der fliegenden Kühe (Bd. 13). Mit Bildern von Ralf Butschkow. Würzburg: Arena 2004. ISBN 3-401-05699-9. 7,95 €. Ab 7.

Keine Hosenträger für Oya. Kindererzählung. Neuaufl. Würzburg: Arena TB 2005. ISBN 3-401-015818. 176 Seiten. 5,50 €. Ab 10.

Novemberschnee. Würzburg: Arena TB 2003. ISBN 3-401-02635-6. 138 Seiten. 5,50 €. Ab 14.

Paul & Paule. Die Reise zum Wildschweinplaneten (Bd. 4). Mit Bildern von Ralf Butschkow. Würzburg: Arena 2002. ISBN 3401052578. 67 Seiten. 7,90 €. Ab 7.