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Mutter

Schöngeist. Magazin für Kunst_Leben_Denken | Wahrheit | 6/2005

Foto: Ivan Schneider

Foto: Ivan Schneider | Schöngeist 6/2005

 

I

Was das soll, fragst du. Wem ich mit diesem Zeug im Gesicht überhaupt gefallen will? Wenn nicht dir. War ich doch immer so ein nettes Mädchen. Was für ein Jammer.

Du hast Recht, Mutter. Alles verbergen zu müssen, um zu überleben, ist nicht nett. Aber auch kein eitler Flitter. Die Schminke retuschiert die Spuren meiner wachen Nächte voller Angst. Verdeckt mein Kindergesicht mit seiner beschissenen Bedürftigkeit. Weist mich als Frau aus, die ich darbieten musste, kaum dass du mich geboren hattest.

Ja, Mutter, deine Tochter ist eine Hure. Keine vier Jahre alt, da wurde sie schon zur Hure. Sie hat dir den Mann ausgespannt, die kleine Lolita, und ihm gegeben, was du ihm verweigert hast. Hat ihn dir sozusagen vom Leib gehalten, wenn das kein Liebesdienst war. Konntest dich ganz und gar deinen Büchern hingeben.

Dabei habe ich so schön im Garten gespielt, nicht wahr. Balancierte auf dem schwarzen Schaukelpferd, die Arme ausgebreitet, und gab alles, Kunstreiterin, Clown, Direktorin. Das Pferd hieß Balthasar. Auf der Zuschauertribüne saß Gott. Du hast ja immerzu lernen müssen, Altgriechisch und Hebräisch, damit du eines Tages selbst Pfarrerin bist und fort kannst von ihm. Die Buchstaben deiner Bücher sahen aus wie Fliegendreck.

 

II

Morgens schloss ich mich immer im Klo ein, weißt du noch? Sie hat einen nervösen Magen, attestierten die Ärzte. Das Kind hat etwas Ätherisches, schwärmten die Lehrer. Du bist irgendwie anders, fanden meine Klassenkameraden. Darum konnte ich nicht mehr zur Schule. Wenn ich mich winselnd an die Türklinke klammerte, durfte ich zu Hause bleiben. Ich lief dann Rollschuh.

Sei froh, Mutter, dass deine Tochter so ein schlaues Kerlchen war und das wochenlange Schwänzen ihre Leistungen nicht schmälerte. Zuverlässig war sie die Klassenbeste und auf jedes Geburtstagsfest geladen. Nicht zu vergessen die schönen Bilder, die sie gemalt, die Geschichten, die sie dazu erzählt hat, von Mama und Papa und Matze und Pony und alle hatten sich lieb. Da hat niemand Verdacht geschöpft. Du warst immer mein Aushängeschild, dass bei uns alles in Ordnung ist, hast du später gesagt. Es war mir eine Ehre.

Doch hast du vergessen, wie oft du die Tochter nachts in die Notaufnahme gefahren hast, wenn sie würgend nach Luft rang oder das Fieberthermometer heiß gerieben hatte? Was diesem hohläugigen Kind denn nur fehle, man möge das doch mal feststellen, hast du die Ärzte bekniet und jedes Mal klang deine Stimme schriller. Wir waren auf allen Stationen bekannt. Mit jeder nur denkbaren Gerätschaft oder Tinktur durchleuchteten sie meine Organe, gefunden haben sie nichts.

Ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als dir im Krankenhaus von mir zu erzählen. Du hättest sowieso nicht zugehört. Hast dagesessen an meinem Krankenbett, dein Buch auf den Knien, deine Augen weit fort. Hattest den Draht zu mir längst gekappt.

Ich bin am Ende, hast du geheult. Das kann doch nicht ewig so weitergehen! Da habe ich dich erpresst. Damit deine Tochter wieder zur Schule geht, musstest du dem Alten Geld aus dem Kreuz leiern. Reitstunden sind schließlich teuer.

Auf einem Pferderücken über den Stoppelacker preschen, die wehende Mähne im Gesicht und den herben Geruch dampfenden Fells in der Nase. Sie kann das Leben bändigen, wenn sie sich nur oben hält.

 

III

Da erhob sich aus dem Brennen ihrer Pein eine Gestalt, blendend schön, wie nur der Teufel erschien, die bizarren Schwingen ausgebreitet, Schwingen aus Kristall. Prinzessin, sang der Dämon, und seine transzendierende Stimme berührte sie wie ein kühlender Kuss. Sieh, was ich dir anbiete…

Ich liege auf dem Kleiderschrank meiner Teeniehöhle und starre hypnotisiert durchs Dunkel auf die rot flackernden Lichter meines Equalizers. Fantastic Voyage, so rase ich durchs All und bin stoned ohne Dope. Ich habe aufgehört zu schlafen. Ich brauche keine Nahrung. Ich hungere mich in David Bowies Gestalt. Mein rundes Mädchengesicht soll seinem Totenschädel weichen (and red mutant eyes gazed down on Hunger City…).

Ich will David Bowie nicht nur küssen, ich will David Bowie sein. Ich will Mann und Frau sein, wie er. Er ist die Inkarnation meiner Heilung. Meine Anbetung ist Masturbation. Freak out! Ich entschwebe ins Zeitalter des Mondes, über alles Fleisch erhaben. Unser Vater ist empört. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Die schale Oblate des Gewöhnlichen pappt an euren Gaumen wie meine Würde an Papas Fingern. Menschen sind erbärmlich.

 

IV

Ich darf seinen Namen nicht in den Mund nehmen wie damals sein Glied, den schmatzenden, spuckenden Aal. Du willst nichts davon hören. Wenn ich ihn nicht hasse, bin ich seine Komplizin. Deine Rivalin bin ich sowieso.

Doch hätte er mich nicht angerührt, die Kleine, hätte ich meine Jugend in Pickellotion ertränkt. Hätte Zettelknöllchen durchs Klassenzimmer geschnippt und gekichert, sobald der fesche Geschichtslehrer vor die Klasse tritt. Mich von einem dieser Milchgesichter küssen lassen, zu Kuschelrock Vol. 1. Ich wäre glatt geblieben, ohne Gesicht. Diese verdammte Clownsgrimasse.

 

V

Das Telefon läutete an einem Sommertag. Ach Gott, flüstertest du in den Hörer und ließest dich auf einen Stuhl fallen, die Lippen bleich. Ach Gott, Frau Schubert… Ist was mit Papa? fragte ich alarmiert, denn es gab nur eine Frau Schubert, Papas Organistin. Du schütteltest grob meine Hand von deinem Arm. Was soll denn sein, dein Vater ist tot! fuhrst du mich an, als sei das klar. Ich floh aus dem Zimmer, schloss mich im Bad ein und hörte nicht mehr auf zu schreien.

Ich sei also die Tochter. Papas Geliebte hält mir das Bild aus seinem Portemonnaie hin. Es zeigt ein lachendes Mädchen mit Sommersprossen und lockigem Pferdeschwanz. Er habe immerzu von mir gesprochen. Die Geliebte weint und steckt das Foto wieder ein. Ich weine auch. Papas Sarg wird in die Erde gelassen. Der Sarg ist zu klein. Nur ein Hund könnte ausgestreckt darin liegen. Er habe mich mehr geliebt als alles andere. Du, Mutter, wirfst schweigend drei Hände voll Erde in die Grube.

 

VI

Keine Ahnung, ob es Liebe gibt. Willst du Zuwendung, mach die Beine breit. Soll jemand dich mitnehmen in sein Zuhause, dir Wärme geben und Schutz, sei begehrenswert. Halt ihn in Atem und er lässt dich bei sich durchatmen. Streichelt dich wie ein Kind. Du darfst sogar weinen bei ihm. Aber denk daran, ihm wieder und wieder deinen Körper anzubieten. Dein lockender Körper ist deine Lizenz. Wehe dir, wenn du eines Tages kein Begehren mehr weckst! Und der Tag wird kommen.