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das nachtmärchen vom teufelsberg

M Publication | Volume 04: Germany Germania Deutschland | 2005

Illustration: Mone Maurer

Illustration: Mone Maurer | M Publication 2005

In den neuen Zeiten, wo das Wünschen wieder modern war, hatte sich in einer Turmruine der stillgelegten Horchstation hoch oben auf dem Teufelsberg eine Königstochter eingenistet. In ihrem Augenwinkel schimmerte eine blutige Träne wie ein Rubin, denn sie war ganz allein mit der Schuld, die ihre Eltern ihr hinterlassen hatten.

Das Loft, das einmal für die amerikanische Besatzung errichtet worden war, lag in Schutt und Scherben. Die Kabel hingen abgeschnitten an den rohen Betonwänden herunter, sein Stahlgerippe lag an vielen Stellen bloß und durch die offenen Fenster zog es kalt. Bis an den Fuß der düsteren Turmstiege hinunter drang das Donnern des Radarschirms, durch dessen Löcher gespenstisch der Sturm griff.

All ihre Schönheit und hunderte Verehrer bedeuteten der Königstochter nichts, denn das Herz war ihr eng und sie musste immerzu schaukeln, traurig hin, traurig her.
Wenn die Königstochter so hoch unter die Turmkuppel schwang, dass sie sich mit ihrer Schaukel fast überschlug, konnte sie durch die Risse im Schirm die Drachen sehen, die im Himmel über Berlin tanzten. Das war neben dem Schnarchen ihrer alten, getigerten Katze ihr einziger Trost.

Eines Abends erwachte die Katze vom Läuten des Mobiltelefons.
»Geh nicht ran!«, rief die Prinzessin aufgeschreckt.
Doch die Katze hatte genug von der Tristesse ihrer Gefährtin und entschied, dass es an der Zeit sei, die Welt in ihren Turm vorzulassen.

»Ja, sie ist da«, maunzte sie in den Hörer. »Party klingt dufte! Wann? Persönlich?«
Und noch ehe die Prinzessin in Ohnmacht fallen konnte, spuckte der Hörer Feuer und versengte der Katze das Ohrenfell.

Aus den Flammen erhob sich eine Gestalt, blendend schön wie nur der Teufel erschien, die bizarren Schwingen ausgebreitet, Schwingen aus Kristall.

»Prinzessin!« sang der Dämon und seine Stimme berührte die Prinzessin in ihrer Pein wie ein kühlender Kuss.
»Sieh, was ich dir anbiete!«
Er zeigte ihr eine Scherbe.
»Durch diesen Spiegel gelangst du zum Fest deines Lebens.«
Schneeflocken rieselten in einer Linie auf die Scherbe. Der Teufel entschwand in magischem Rauch. Die Prinzessin aber fühlte sich empor getragen und schwebte durch den Spiegel in eine höhere Dimension.

Hinter dem Spiegel war ihr Fest bereits in vollem Gange. Der Zeremonienmeister, gestylt und gepudert, rollte elektronische Klangteppiche aus, auf denen die feiernde Menge mit frenetischem Jubel emporflog. Seine Zauberspindeln drehten sich in Ekstase und spulten dabei Schallfäden ab, die hatten keinen Anfang und kein Ende und woben um die Tanzenden ein vibrierendes Netz. Durch die Löcher in den Wänden quollen die Töne von Raum zu Raum und die Bässe hämmerten sich martialisch durch den Beton.

Die Luft klebte von Rauch, Schweiß und Hormonen. Jemand steckte der Prinzessin Zauberpastillen zu, die ihr das Herz weiteten. Sie lächelte hier hin und dort hin, während ihre Katze mit einer Klobürste anmutig über ein Rohr balancierte. Kurz darauf gellte ein klägliches Miauen aus der Tiefe.

Noch ehe die Königstochter ihrer Katze zu Hilfe eilen konnte, stolperte sie über den Plateaustiefel eines Zebras.
»Aus Deinen Augen spricht Erfahrung«, schmetterte das Zebra, dass seine Hornbrille verrutschte.
»Du bist die Frau, für die ich töten würde!«
Seine Stimme knackte wie Eis, das in der Sonne bricht.
Die Prinzessin fühlte sich erhabener als die Nacht!
Sie wirbelte mit dem Zebra im Kreis bis seine Zebrastreifen ineinander flossen. Schwarz und Weiß, Nacht und Tag, Frau und Mann wurden eins und das Zebra verpuffte zu Schall und Rauch.

Schon umgarnte sie ein Luchs auf geschmeidigen Samtpfoten. Seine Bernsteinaugen glühten unter dem Stroboskop.
»Verbring mit mir tausend und eine Nacht und dir werden die Sinne vergehen!« raunte er und betörte sie mit seinem Duft.
Die Hitze raste durch ihre Körper und ihre Lustschreie echoten millionenfach durch die Radarkuppel.
Dann wollte er jedoch diskutieren und quälte die Prinzessin mit seiner Paranoia.
»AIDS«, erklärte der Luchs und seine Augen funkelten fanatisch, »ist eine internationale Verschwörung der Pharmaindustrie. Die wollen mir alle an den Sack!«

Als hätte die Königstochter es mit ihrem Seufzen herbei gerufen, kullerte ihr da ein Einmachglas vor die Füße. Das Glas brummte. Sie hob es auf, pustete den Staub von seinem Deckel und drehte es verwundert in ihren Händen. Die Knopfaugen eines Teddys glotzten sie daraus an. Seine Brust zierte eine Schärpe mit der Aufschrift Berlin und auf seinem Kopf saß eine Krone, aus der ein Zacken gebrochen war.

»Ich bin ein Prinz«, näselte er mit seiner plattgedrückten Schnauze durchs Glas.
»Man hat mich als Langzeitarbeitslosen hier eingesperrt. Befrei mich, dann fliege ich mit dir ins All!«
Das hielt die Prinzessin für einen billigen Trick.
»Erst musst du beweisen, dass du ein echter Prinz bist«, bestimmte sie. »Hol mir einen Stern vom Himmel!«
»Aber ich kann mich hier drin nicht rühren«, entgegnete der Bär.
Das musste die Königstochter zugeben.
»Vertrau mir!«
So öffnete die Königstochter den Deckel.
Heraus kam ein Bär von imposanter Gestalt.

Plötzlich rückten uniformierte Staatsdiener in die Horchstation ein, beschlagnahmten Tütenweise Zauberpastillen und bereiteten dem Fest auf dem Teufelsberg ein enttäuschendes Ende. Der Spiegel zerbrach und die Prinzessin fand sich im Geröll vor ihrem Loft wieder. Benommen sah sie sich um. Unter ihr blinkten die Lichter der Großstadt. Neben ihr steppte der Bär, begeistert von seiner jungen Freiheit.
»Komm!«, brummte er. »Wir müssen weg hier!«

Nachtkerzen, die aus dem Unrat wuchsen, leuchteten ihnen den Weg den Teufelsberg hinab in den Grunewald. Mit ihnen hinkte, auf breiten Plattfüßen, die getigerte Katze.

Auf einer mondbeschienenen Lichtung küsste der Bär der Königstochter die blutige Träne aus dem Augenwinkel und schmückte damit seine Krone. Der Sternenhimmel drehte sich um sie, als sie einander im Gras der Gelassenheit umschlangen. Hoch und höher flogen sie und jagten im großen Wagen durchs All. Aus dem Fond rieselte Musik.

Jetzt wusste die Prinzessin, dass der Bär ein echter Prinz war. Und sie stürzte sich in die wilde Ewigkeit seiner Augen.